Barba
Sensatiun (Opa Sensation)
...
Gerade liefen die
Vorbereitungen und Planungen für einen Sommerurlaub, es war
irgendwie Mitte der achtziger Jahre, Deduschka lebte bereits einige Zeit
im Haus der Kinder, als ihm Dimica eines Tages eine unerwartete Frage
stellte: "Möchtest du mit uns ans Meer fahren?"
Deduschka antwortete nicht
gleich mit einem kurzen "Nein", wie alle es erwartet hatten. Es war ja
auch eine Frage, die einfach in den Raum gestellt wurde. Ohne Erwartungen.
Keine richtige Frage. Eher eine rhetorische Frage. Die kurze,
aber doch ohrenbetörende Stille bis zur Antwort, nur einige Sekunden
später, ließ alle aufhorchen.
Auf einmal
erwarteten alle das Unerwartete. Erwartungsgemäß oder unerwartungsgemäß,
traf es auch ein. Deduschka
hob seinen Kopf aus den gerade noch antwortsuchenden Gedanken. Er hob ihn
mit einem leichten Lächeln. Einem, in den Mundwinkeln fast verstecktem
Lächeln. Kaum sichtbar. Das kurze Aufleuchten der Augen hatte es verraten. Er blickte
auf und antwortete langsam und bedacht – fast mit Erleichterung: "Schon
seit dreißig Jahren hat mir niemand diese Frage gestellt. Und wie es
scheint, wird es bald auch niemand wieder tun. Ja! Ich möchte mit ans
Meer!"
Ugljan ist eine ruhige Insel in
der Adria. Die ungefähren geographischen Koordinaten sind 44°8’ nördliche
Breite und 15°6’ östliche Länge. Dort sollte Deduschka nach vielen Jahren
wieder auf das Meer treffen. Im zarten Alter von etwa fünfundsiebzig
Jahren. Es kann auch ein Jahr mehr oder weniger gewesen sein.
Mirko, Anđelkas Mann, nannten
alle ehrenvoll Barba Mirko, oder in der Familie Dida, was auf dalmatinisch
Opa hieß. Deduschka traf auf Dida. Dida war sehr froh darüber. Endlich war
da jemand, zu dem Mirko aufschauen konnte, nicht nur vom Alter her.
Deduschka kam aus dem "gelobten" Land, aus Slawonien, aus der Pannonischen
Tiefebene, wo die Erde sehr reichhaltig, fett und schwarz war. Dort konnte
man alles Mögliche anbauen. In Dalmatien war es schwer, dem kargen Boden
etwas abzuringen. Einige weiße Karstfelsen hatte Dida in seinem kleinen
Garten mit Dynamit weggesprengt, so dass er mehr von der für Dalmatien
typischen roten und eisenhaltigen Erde hatte und somit auch mehr Pflanzen
anbauen konnte.
Mit Stolz
zeigte Mirko dem Gartenbauer aus Slawonien, was er alles Tolles in seinem
Garten hatte. Deduschka musste verlegen lächeln. Viel war aus
dem kargen Boden nicht heraus zu holen. Mirko hatte ähnliche Früchte wie
Deduschka angebaut, doch waren diese wesentlich kleiner, als die, die er
in Vukovar geerntet hatte. Ob er
verlegen lächelte, weil seine Pfirsiche so viel größer waren als Mirkos,
oder weil er sich an die noch größeren Pfirsiche in Büyükdere erinnerte,
denen er in Vukovar nacheiferte. In seiner Erinnerung, mit Kinderaugen
gesehen, waren diese türkischen Pfirsiche riesig. Zudem waren sie aus dem
Nachbargarten, auch das ließ sie unvorstellbar groß und süß werden.
Vielleicht
wurden ihm durch die relativen Unterschiede der Größe der Pfirsiche die
Erinnerungen an die Kindheit in der Türkei wieder ins Gedächtnis gerufen.
Vielleicht war es aber auch der süße Pinienduft vermischt mit der salzigen
Meeresluft, der ihn an seine Kindheit erinnerte. Den Duft
kannte er aus Büyükdere. Lange hatte er diesen süß-salzigen Duft nicht
mehr gespürt...
Mirko war
einer der Einheimischen und stolz auf seinen Besuch. Und stolze Männer
müssen prahlen. Schnell
sprach sich im Dorf herum, dass Deduschka zu Besuch war. Normalerweise
waren die alten Dorfbewohner unter sich, die Ureinwohner sozusagen, die
hier das ganze Jahr über lebten. Wenn Besuch
kam, dann über Sommer – das waren die Familien eines der älteren
Dorfbewohner oder einige der wenigen Touristen, die sich auf die dünn
besiedelte Insel, die nur mit einer Fähre erreichbar war, verirrt hatten. Jetzt kam
tatsächlich ein alter Mann zu Besuch. Ein Neuzugang für die ältere
Generation. Zudem noch einer, der sich total daneben benahm. Anscheinend
lehnte dieser alte Opa es ab alt zu sein.
Öffentlich
sah man den leisen Aufruhr nicht. Alles lief ab wie immer. Jeder kümmerte
sich um seinen Kram. Doch die immer wachen und beobachtenden Augen eines
kleinen Dorfes versteckten sich im Schatten, hinter Gardinen oder breiten
Blättern eines Feigenbaumes, sie beobachteten alles sehr genau.
Es
verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Opa Sensation nannten sie ihn – Barba
Sensatiun.
Nicht ohne
Grund.
Mirkos Haus
war nicht direkt im Ort Ugljan, sondern ungefähr ein bis zwei Kilometer
südöstlich, im Ortsteil Čeprljanda. Die Badestelle war gleich vor dem
kleinen Hafen, der mit zwei versetzten Molen vor der Brandung geschützt
war. Auf der Südseite der kleinen Bucht war eine kleinere Mole auf der
Nordseite gegenüber, die äußere, etwas größere Mole. Neben dieser war eine
leicht abfallende Stelle, an der zwischen die Felsen etwas Kies
aufgeschüttet war, um den Badenden den Zugang zum Meer zu erleichtern.
Es war schon
eine gute Woche vergangen. Seinen ersten Hunger nach dem Meer hatte
Deduschka bereits gestillt, er schwamm etwas und ließ sich auf dem Rücken
treiben.
Auf der
größeren Mole standen Deduschkas Sohn und seine Enkel, die lustig von der
ein Meter hohen Mole ins Meer sprangen. Deduschka stand daneben und
beobachtete das Geschehen. Es waren
noch zwei bis drei weitere örtliche Jugendliche dabei. Sie spielten ein
Spiel, sie gaben sich Aufgaben, wie der jeweilige Sprung auszusehen hatte.
Da waren einige lustige Figuren dabei und auch einige ordentliche
Platscher. Nach dem
Sprung kletterten sie dann an der Mole wieder herauf. An die Mole
angelehnt lagen einige große Felsen, die zusammen so etwas wie große
Stufen bildeten.
Dimica und
die Enkel standen wie so häufig zuvor abtropfend an der einen Seite der
Mole und überlegten sich wie der nächste Sprung aussehen sollte. Die
Überlegungen hatten wohl etwas länger gedauert, denn Deduschka, der neben
ihnen stand, nahm ohne jegliche Ankündigung Anlauf und machte einen
Kopfsprung.
Dimica, Aljoša und Denis hatten
etwas Zeit ihr Staunen mit Gelächter und lustigen Bemerkungen zu
verarbeiten, während Deduschka wieder zur Mole schwamm und die große
Felsentreppe hochkletterte. Der Sohn und die Enkel waren mittlerweile
wieder etwas gefasst und fanden es im Grunde genommen toll. Die Enkel
waren locker drauf und fanden es sogar lustig Drei-Generationen-Sprünge
von der Mole zu machen. Wer hatte sonst noch so eine Gelegenheit. Sie machten
Deduschka aufmerksam, dass er bei seinem Kopfsprung zu flach ins Meer
getaucht war – gerade wie ein Brett, das müsste ja beim Aufprall wehtun.
Und er solle beim Absprung etwas mehr Drehung hinzugeben.
Deduschka
lächelte nur und sagte: "Bei meiner alten und schlecht durchbluteten Haut
tut es nicht weh, es fühlt sich eher angenehm an, wie eine Massage."
Dagegen
konnten die jüngeren nicht weiter argumentieren. Wenn es nicht weh tat...
Es war ein schöner gerader Sprung, auch wenn der Einfallswinkel noch
optimierbar gewesen wäre.
Deduschka
ließ sich etwas Zeit, aber nach einiger Weile nahm er wieder Anlauf und
sprang wieder seinen Köpfer. Da an dem Sprung nichts weiter auszusetzen
war, fanden es alle anwesenden lustig und amüsierten sich.
Nach
weiteren Sprüngen, gerade hatten sich alle an den "springenden" Deduschka
gewöhnt, nahm er wieder Anlauf und sprang – zur Verwunderung aller
Anwesenden – einen Salto.
Es war kein
voller Salto, es war ein Dreiviertler, er platschte mit dem Rücken aufs
Wasser auf. Es war aber eben doch – ein Salto.
Als er
wieder über die Treppen auf die Mole stieg, standen alle noch verdutzt und
mit offenem Mund da. Er gab sich Zeit, stand einfach da, lächelte
verschmitzt und genoss den Augenblick. Dimica
fasste sich als erster und ging auf ihn zu: "Deduschka, du kannst hier
keinen Salto springen."
"Wieso nicht?" – auf diese
Antwort war Dimica nicht gefasst, genauso wenig wie auf den Salto selbst.
Da keine erneute Widerrede kam fügte Deduschka hinzu - "Als ich jung war
bin ich täglich beim Turnen Salti gesprungen."
"Aber, genau darum geht es ja:
Du bist nicht mehr jung. Du bist alt!" – versuchte Dimica rational zu
argumentieren.
Ob es die
Pfirsiche und die Relativität derer Größe auf Ugljan, in Vukovar und in
Büyükdere war, die auch Deduschkas Alter relativierten? Der süße
Pinienduft vermischt mit der salzigen Meeresluft und die springenden
Jugendlichen, die Deduschka in seine eigene Jugend versetzt hatten? Dass
er Jahre dazugewonnen hatte, musste doch nicht bedeuten, dass er an
Vitalität verloren hatte. Zumindest etwas davon musste noch da sein. Und
wie es schien, war davon tatsächlich einiges noch da.
Als Dimica
sah, dass Deduschka nicht vorhatte, auf ihn zu hören, wandte er sich an
die Enkel, Aljoša und Denis, ob nicht sie ihren Opa zur Vernunft bringen
könnten. "Wenn er nicht auf Dich, seinen Sohn, hört, warum sollte er dann
auf seine Enkel hören?" – war alles was diese antworteten.
Deduschka
war alt, aber er fühlte sich nicht so alt, dass er sich und alle seine
Wünsche aufgeben musste. Wo steht
geschrieben, dass Alte nicht leben dürfen? Er war alt.
Ja, das war er! Aber er wollte nicht wie so viele sich irgendwo auf eine
Bank in den Schatten setzen, und warten, bis der Tod ihn holt. Er wollte
das Leben fühlen... Das Leben leben...
Er sah, dass
sein Sohn und seine Enkel nicht wussten, was sie ihm sagen sollten, aber
dass sie dennoch irgendwie erwarteten, dass etwas gesagt werden sollte,
also sagte er selbst etwas: "Was kann mir schon passieren, wenn ich ins
Wasser falle? Knochen brechen, kann ich mir dabei nicht!"
Damit
überzeugte er sie alle. Es war nur eine weitere Massage für seine alte
verkrustete Haut, und wie es schien, ebenso für seine alte und vernarbte
Seele.
Sein Alter
ignorierte Deduschka nicht, er trotzte ihm.
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